Von selbstfahrenden Autos und wollenen Schafen
Mit dem Exzellenzcluster MATH+ tauchen Besucher der Ausstellung im Humboldt Labor des Humboldt Forums in die Welt der Mathematik
Wie sorgen wir dafür, dass weniger Stau auf den Straßen herrscht? Wie können wir die Mengen an Daten nutzbar machen, die wir täglich produzieren? Und wie schaffen wir es, dass Strom genau dort zur Verfügung steht, wo er gerade gebraucht wird? Mathematik hilft dabei, Lösungen für Probleme zu finden, die uns im Alltag betreffen. „Wir leben in einer Welt der Mathematik, ohne es uns bewusst zu machen“, sagt Dr. Gorch Pieken, Kurator der Ausstellung, mit der sich die Humboldt-Universität zu Berlin (HU) im Humboldt Forum präsentieren wird.
Im großen Foyer der Schau werden die Exzellenzcluster der Berliner Universitäten vorgestellt, die über die Exzellenzstrategie von Bund und Ländern gefördert werden. Eines von ihnen ist das Forschungszentrum der Berliner Mathematik MATH+ , an dem die Technische Universität (TU) als Sprecherhochschule, die Freie Universität (FU), die Humboldt-Universität (HU), das Weierstraß-Institut für Angewandte Analysis und Stochastik (WIAS) und das Zuse-Institut Berlin (ZIB) beteiligt sind.
Ein Blick in die Blackbox mit MATH+
Die Ausstellung der Humboldt-Universität im Humboldt Forum werde von mathematischen Fragen und ihren angewandten Lösungen durchdrungen sein, erklärt der Kurator. Das fange schon bei dem virtuellen Fischschwarm an, der im Eingangsbereich auf einen riesigen Theatervorhang projiziert wird und auf die Bewegungen der Besucherinnen und Besucher reagiert. Erst die Mathematik mache diesen Fischschwarm möglich, genauso wie viele andere bildliche Repräsentationen wissenschaftlicher Forschung in der Ausstellung. Diese werden unter anderem über Computer oder Smartphones abgespielt, die es ohne Mathematik auch nicht geben würde. „Trotzdem ist sie für viele Menschen ein ‚Mysterium‘“, sagt Gorch Pieken. „Deswegen möchten wir mit dem Cluster MATH+ einen Blick in die Blackbox werfen“, erklärt der Kurator.
Ein anschauliches Anwendungsfeld ist der Verkehr. Viele Menschen nutzen Navigationsgeräte, um schnell von A nach B zu kommen. In die Berechnung der vorgeschlagenen Routen werden verschiedene Variablen einbezogen: Wo ist eine Straßensperrung, wo freie Fahrt? „Dahinter steckt ein mathematischer Algorithmus, der mit vielen Daten umgehen kann“, erklärt Prof. Martin Skutella, Professor für Mathematik und Informatik an der Technischen Universität (TU) Berlin und Sprecher von MATH+. „Unser Ziel ist es, den Verkehr so zu lenken, dass sich möglichst wenig Staus bilden. Hierbei hilft uns die mathematische Netzwerkoptimierung“, sagt Skutella. In Zukunft werde es dann auch darum gehen, autonom fahrende Fahrzeuge durch die Stadt zu steuern.
Gesamte Berliner Mathematik unter einem Dach
Die Voraussetzung für solche Entwicklungen sind die immer größeren Mengen an Daten, die in allen Bereichen des Lebens und der Forschung zur Verfügung stehen. „Kein Mensch kann mit diesen riesigen Datenmengen, die in unser Leben Einzug halten, etwas anfangen. Da ist die Mathematik gefragt“, sagt der Sprecher des Clusters. Eine der Kernaufgaben der Mathematik sei, Algorithmen zu entwickeln, die große Datenmengen analysieren und interpretieren können, um so konkrete Probleme zu lösen. „Bei MATH+ stehen wir nun vor der Herausforderung, die dafür nötigen mathematischen Methoden entscheidend weiterzuentwickeln“, erläutert Prof. Skutella. Dafür will der Cluster die gesamte Berliner Mathematik – und damit etwa 100 mathematische Forschungsgruppen – unter einem Dach vereinen.
Auch im Zuge der Umstellung auf erneuerbare Energien werden – ein wichtiges Thema der Auftaktausstellung – Mathematikerinnen und Mathematiker zur Optimierung von Netzwerken gebraucht. Wenn – etwa bei Flaute oder bei Nacht – keine Wind- oder Solarenergie zu Verfügung steht, können beispielsweise Gaskraftwerke hochgefahren werden, um die Energieversorgung zu sichern. An der Steuerung des europaweiten Gasnetzes wirken auch Forscherinnen und Forscher des Clusters MATH+ mit.
Roboter-Schafe im Humboldt Forum?
Seit Anfang 2019 wird der Exzellenzcluster über die Deutsche Forschungsgemeinschaft gefördert, im Mai wurde er offiziell eröffnet. Die Spitzenforscherinnen und -forscher arbeiten aber nicht nur mit Partnern aus den Ingenieurswissenschaften, sondern auch aus den Lebenswissenschaften, Geistes- und Sozialwissenschaften zusammen. In einem Projekt erforschen sie mit Archäologinnen und Archäologen, wie sich das Wollschaf in Europa ausgebreitet hat. Weil im Rahmen der Evolution Schafe mit längerem Fell entstanden waren, konnten Menschen beginnen, diese Wolle für Kleidung zu nutzen. Anhand von Ausgrabungen lasse sich feststellen, wo sich diese Innovation bereits etabliert hatte, erklärt Prof. Skutella. Mathematische Modelle helfen dann dabei zu verstehen, wie sich die Schafe ausgebreitet haben.
Ob es neben virtuellen Fischen im Humboldt Forum auch Roboter-Schafe zu sehen geben wird? Wer weiß? Die Auftaktausstellung ist modular aufgebaut und kann zu jedem beliebigen Zeitpunkt verändert oder ergänzt werden. Beispiele für mathematische Anwendungsfelder gibt es genug. Ob Energieversorgung oder öffentlicher Nahverkehr: Das Zeitalter des Anthropozäns, des maßgeblich vom Menschen beeinflussten Zeitalters, hält zahlreiche Herausforderungen parat. „Wir werden vieles grundsätzlich weiterdenken und tun müssen; denn für unsere Zukunft wird es nicht reichen, sie nur als optimierte Gegenwart zu denken. Und dabei kommt der Mathematik eine besondere Bedeutung zu”, sagt Gorch Pieken.
AutorIn: Inga Dreyer
Dieser Text wurde am 22. Juli 2020 auf der Homepage des Humboldt Labors des Humboldt Forums in Berlin im Rahmen der Vorstellung der Berliner Exzellenzcluster veröffentlicht (momentan dort nicht mehr verfügbar).